4. Kirchenrecht & Strukturen für Synodalität
Theologische Tischvorlagen für die Synode 2023
Jos Moons & Robert Alvarez (KU Leuven)
Zusammenfassung
Sowohl in offiziellen Dokumenten als auch in der theologischen Literatur ist viel häufiger von Strukturen für die Synodalität und (seltener) von Institutionen und Verfahren die Rede als vom Kirchenrecht und anderen kanonischen Vorschriften. Dennoch wird das Kirchenrecht als ein dringend benötigtes Instrument angesehen, das einen synodalen kirchlichen Lebensstil fördert und erleichtert, indem es der Synodalität eine Form und Struktur gibt.
Es lassen sich vier Perspektiven ausmachen. Erstens lenken verschiedene Autoren die Aufmerksamkeit auf bestehende Strukturen der Beteiligung, wie die Bischofssynode und die Pastoralräte. Die zweite Perspektive geht davon aus, dass das Kirchenrecht ein praktisches Instrument ist, das in einen kirchlichen und theologischen Kontext eingebettet ist und daher reformiert werden kann. Drittens schlagen die Autoren verschiedene Möglichkeiten zur Neugestaltung der Strukturen und Regeln im Hinblick auf eine stärkere Beteiligung der Laien vor. Schließlich wird in mehreren Überlegungen darauf hingewiesen, dass das Kirchenrecht durch etwas anderes ergänzt werden muss, nämlich durch Bekehrung und (andere) Haltungen.
Detaillierte Analyse
Statistik
- Das Arbeitsdokument für die kontinentale Etappe spricht einmal vom „Kirchenrecht“ (in Nr. 71) und 26 Mal von „Strukturen“. Im Instrumentum Laboris wird das „Kirchenrecht“ zehnmal erwähnt (in Nr. 43, Einführung, 3.2, 3.3 und 3.4), gegenüber etwa 40 Verweisen auf „Strukturen“ und mehr als 30 Verweisen auf „Institutionen“.
- Eine quantitative MAXQDA-Suche zeigt eine ähnliche Tendenz. 23 Artikel, Bücher oder Buchkapitel mit 10 oder mehr Verweisen auf das Kirchenrecht stehen 82 Verweisen auf Strukturen gegenüber.
- Gleichzeitig zeigt die Bibliographie, dass Kirchenrechtler mehr als 70 Artikel, Bücher oder Buchkapitel beigesteuert haben, d. h. etwa 10 % der Gesamtzahl der Veröffentlichungen. Zwei Personen ragen bei der Zahl der Beiträge heraus: Alphonse Borras (18) und Myriam Wijlens (13). (Bei einigen dieser Beiträge handelt es sich um wiederveröffentlichte Übersetzungen.)
1) Bestehende Strukturen der Beteiligung
- Das Kirchenrecht lässt die Beteiligung von Laien bereits zu (oder fordert sie sogar dazu auf). Gelehrte verweisen auf grundlegende Aussagen über die gemeinsame Taufwürde aller Gläubigen und ihre Teilhabe und besondere Verantwortung in der Kirche, einschließlich der Teilhabe an der eigenen Meinung in kirchlichen Angelegenheiten (Cann. 208-223; für Laien Cann. 224-231). Sie verweisen auch auf spezifische partizipative Bestimmungen, wie die für Diözesansynoden (Cann. 460-468), Vermögensverwaltungsrat (Cann. 492-494 und 537), den Priesterrat und das Konsultorenkollegium (Cann. 495-502), und den Pastoralrat (Cann. 511-514 und 536). (Althaus, Glendinning, Peña Garcia, Prisco, Rees, Renken). (Vgl. die Tischvorlagen über Partizipation und über den Bischof.)
- Die Wissenschaftler stellen jedoch fest, dass der Codex mit einem Schwerpunkt auf dem hierarchischen Aspekt der Kirche formuliert wurde. So beginnen die Überlegungen zu den Diözesanbischöfen mit der Feststellung, dass „Dem Diözesanbischof kommt in der ihm anvertrauten Diözese alle ordentliche, eigenberechtigte und unmittelbare Gewalt zu, die zur Ausübung seines Hirtendienstes erforderlich ist; ausgenommen ist, was von Rechts wegen oder aufgrund einer Anordnung des Papstes der höchsten oder einer anderen kirchlichen Autorität vorbehalten ist“ (Can. 381) (Glendinning). Auch die Diözesansynoden sind in hohem Maße vom Bischof abhängig; wie Glendinning schreibt, „beruft der Bischof sie ein, bestimmt ihre Tagesordnung, führt den Vorsitz und löst sie auf oder setzt sie aus. Der Diözesanbischof allein ‚unterschreibt die Erklärungen und Dekrete der Synode, die nur kraft seiner Autorität veröffentlicht werden dürfen‘ (Can. 466)“. Die hierarchische Ausrichtung des Codex und der katholischen Theologie und Praxis führt dazu, dass die Beteiligung der Laien zu sehr vom guten Willen und von der freiwilligen Machtteilung der Bischöfe abhängt, und dass „echte Konsultationen oft minimal sind“ (Clifford).
2) Das Kirchenrecht ist reformierbar
- Das Kirchenrecht soll ein Instrument sein: „Der Codex ist nur das Instrument, das die konziliare Ekklesiologie in die kanonische Sprache zu übersetzen versucht“ (Peña Garcia), und „die Strukturen müssen der Gemeinschaft ermöglichen, nach ihrem eigenen Glauben zu leben, und dürfen sie nicht daran hindern“ (Wijlens 2020). Außerdem steht das Kirchenrecht im Kontext der Zeit und der Theologie und ist daher reformierbar (Borras 2022a), Peña Garcia, Szabó, Wijlens 2020).
- Wir leben in einem neuen theologischen Kontext. Papst Franziskus hat bei der Auslegung des Zweiten Vatikanischen Konzils den „Reset-Knopf“ gedrückt und betont das Volk Gottes gegenüber der Hierarchie und die Synodalität (der Getäuften) gegenüber der (bischöflichen) Kollegialität (Wijlens 2017 und viele andere). Borras und Luciani betonen die Bedeutung der Ortskirche gegenüber der Universalkirche und damit Inkulturation und Vielfalt. (Für eine grundlegende Reflexion über Polarität, siehe Polanco.) Diese theologischen Veränderungen erfordern eine institutionelle Umstellung, die sich in einer Strukturreform niederschlägt. Kanonisten sind realistische Menschen, die wissen, dass Ideale in Strukturen umgesetzt werden müssen, „sonst bleiben wir bei frommen Wünschen“ (Borras 2022a).
- Dies erfordert kanonische Kreativität und Mut. Wijlens verweist auf die Zeit zwischen dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der Verkündung des neuen Gesetzbuches 1983 und spricht von temporären Konstitutionen (oder „ad experimentum“) und von der Auslegung des Rechts in seinem aktuellen Kontext (der Fachjargon spricht vom „mens legislatoris ex nunc“ und nicht nur „ex tunc“) (Wijlens 2017). In ähnlicher Weise spricht Borras von der Dynamik zwischen „lo instituido y lo instituyente“ (dem, was instituiert wurde und dem, was instituiert wird) (Borras 2022a).
3) Institutionelle Reform
- Nach Borras erfordert die Synodalität verschiedene Verschiebungen: von der universalen zur partikularen Kirche, von der Konzentration auf den Priester hin zur grundlegenden Würde und Gleichheit aller Getauften, von der (konsultieren-) beratenden zur (diskutieren-) beratenden Funktion und zur Überwindung autokratischer Tendenzen in der kirchlichen Leitung (Borras 2022a/b). (Siehe auch Polanco für eine grundlegende Analyse der Polarität.)
- Konkretere Vorschläge für „kirchliche Kommunikationsstrukturen“ (Osheim) sind die folgenden.
- Die Kollegialität muss sowohl affektiv als auch effektiv sein (Borras 2022a, vgl. Szabó).
- Diözesan- und Gemeindepastoralräte verpflichtend machen (Borras, Glendinning, Osheim, Poothavelithara).
- Treffen mit der lokalen Gemeinschaft während der Pastoralvisitationen (Glendinning).
- Einrichtung von Prüfungsausschüssen für dringende Angelegenheiten, wie z.B. den Skandal des sexuellen Missbrauchs (Glendinning, Schickendantz), und ganz allgemein von Mechanismen zur Berichterstattung durch Dritte oder von Verfahren zur Anhörung von Beschwerden (Clifford, Glendinning, Schickendantz).
- Entwicklung von Möglichkeiten für Laien, ihre Perspektive und Mitarbeit einzubringen (Peña Garcia), insbesondere für (Laien-)Theologen (Peña Garcia), um so die Vielfalt der Ämter zu entwickeln und zu integrieren (Clifford, Peña Garcia).
- Konsultation der Laien vor der Ernennung von Bischöfen oder Pfarrern (Clifford, Glendinning).
- Stärkung der „regionalen Instrumente der Gemeinschaft“ wie nationale oder diözesane Synoden oder sogar kontinentale Synoden wie der CELAM und eine gesunde Dezentralisierung weg von der römischen Kurie (Clifford, Luciani).
- Einführung einer stärkeren Vertretung der Laien in den Diözesansynoden (Borras 2022b).
- Rechenschaftspflicht (accountability) zur Norm machen (Borras 2022b).
- Einbeziehung von Frauen auf den verschiedenen kirchlichen Ebenen (Schickendantz).
- Bei der Entwicklung von mehr synodalen Regeln und Strukturen kann die katholische Kirche von ökumenischen Schwesterkirchen lernen (Clifford, Osheim).
- Es gibt gute Beispiele, denen man folgen kann. Der Plenary Council of Australia oder die neue Conferencia Eclesial de la Amazonia respektieren das kanonische Recht, arbeiten aber mit einer größeren Laienbeteiligung und sind in einer Teilkirche verwurzelt (Lennan, Luciani, Neumann). Es gibt einige Literatur, die Beispiele aus der Perspektive der Ostkirchen (vgl. Szabó) und der Orden reflektiert, die aber aus Zeitgründen nicht in diese Analyse einbezogen werden.
4) Konversion
- Die Autoren stellen fest, dass eine Änderung des Kirchenrechts allein nicht ausreicht und dass wir eine Bekehrung des Herzens zu einer Haltung der Offenheit für den Geist brauchen (Moons, Poothavelithara). Osheim spricht von „Spiritualitäten und Strukturen der Unterscheidung“ und Borras stellt fest, dass „synodale Ereignisse einen Habitus, einen ‚Stil‘ und dessen institutionelle Formalisierung voraussetzen“ (Borras 2022a). Einige Autoren zitieren das Wort von Paul VI. von einem „novus habitus mentis“ (Paul VI.) (Glendinning, Renken, Wijlens). Dazu müssen verschiedene Widerstände überwunden werden, darunter einige hierarchische „autokratische Tendenzen“, die Passivität der Laien, die Angst vor Veränderungen usw. (Borras 2022a/b). (Vgl. die Tischvorlage zur Praxis der Synodalität.)
- Dazu gehört die Ausbildung (Osheim, Poothavelithara). Glendinning plädiert für eine „bessere Ausbildung von Laien und Geistlichen über den Nutzen und die Notwendigkeit einer breit angelegten Konsultation im Entscheidungsprozess“.
Ressourcen: empfohlene Lektüre
Althaus, Rüdiger, “Die Synodalität (in) der Kirche aus Sicht des katholischen Kirchenrechts,” Catholica: Vierteljahresschrift für ökumenische Theologie 70 (2016): 101-113.
Borras, Alphonse“¿Que hay que cambiar en el derecho canónico para una auténtica sinodalidad?,” in Sinodalidad y reforma. Un desafío eclesial, hgg von Rafael Luciani, Serena Noceti und Carlos Schickendantz (Madrid: PPC, 2022), 137-162.
———, “The Call to Synodal Conversion,” Studia Canonica. Revue canadienne de droit canonique 56 (2022): 691-707.
Clifford, Catherine E., “Diverse Structures and Procedures for the Exercise of the Teaching Office Anglican-Catholic Ecumenical Learning,” Studia Canonica. Revue canadienne de droit canonique 53 (2019): 297-315.
Glendinning, Chad J., “Structures of Accountability in the Parish and Diocese: Lessons Learned in North America and Possibilities for Reform,” Studia Canonica. Revue canadienne de droit canonique 56 (2022): 645-669.
Lennan, Richard, “The Plenary Council as a Practice of Theology,” The Australasian Catholic Record 100 (2023): 3-24.
Luciani, Rafael, “Reconfigurar la identidad y la estructura eclesial a la luz de las Iglesias locales. ‘Querida Amazonia’ y el estatuto teológico de las realidades socioculturales,” Medellín. Teología y pastoral para América Latina y el Caribe 46 (2020): 487-515.
Moons, Jos, “La lettre ou l’esprit ? La synodalité et les limites de la reforme du droit canon,” Nouvelle Revue Théologique 145 (2023), 403-419.
Noceti, Serena, “Reforma de la Iglesia, reforma del ministerio ordenado,” in Reforma de estructuras y conversión de mentalidades. Retos y desafíos para una Iglesia Sinodal, hgg von Rafael Luciani und Carlos Federico Schickendantz (Madrid: Khaf, 2020), 313-346.
Neumann, Thomas, “Synodalität ‘Down Under’. Ein rechtlicher Vergleich der synodalen Prozesse in Australien und Deutschland,” Theologische Quartalschrift (Tübingen) 202 (2022): 470-488.
Osheim, Amanda C., “Stepping toward a Synodal Church,” Theological Studies 80 (2019): 370-392.
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Italienische Referenzen
Severino Dianich, Riforma della chiesa e ordinamento canonico (Bologna: EDB, 2018).
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Rafael Luciani and Serena Noceti, “Imparare una ecclesialità sinodale,” in Il Regno attualità (2021) 257-264.
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Roberto Repole, “Il Sinodo diocesano. Una prospettiva ecclesiologica,” in Sinodalità. Dimensione della Chiesa, pratiche nella chiesa, hgg von Riccardo Battocchio und Livio Tonello (Padova: EMP, 2020), 97-120.